Wie schwere Unwetter die Situation am Bahnhof Madrid Atocha beinahe zum Eskalieren brachten.

Jedes Jahr treffen sich WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen, um an einer Konferenz die neusten Kenntnisse über Aerosole- Nanopartikel und Feinstaub untereinander auszutauschen. Aerosole- und Nanopartikel spielen in der Arbeitshygiene, der Atmosphäre, bei der Erstellung von Wettermodellen und in industriellen Prozessen eine bedeutende Rolle.

Im Wissen um die Bedeutung solcher Emissionen (z.B. von Flugzeugen), haben wir uns in unserer Firma, die Messgeräte zur Messung von Aerosolen baut vorgenommen, wenn immer möglich mit dem Zug zu reisen. Diesmal geht die Reise von der Schweiz nach Màlaga.

Aus terminlichen Gründen musste ich die Reise an einem Stück, in einem Tag zurücklegen. Ich hatte vermutet, dass irgendwas schief gehen könnte und habe deshalb Essen und Getränke für 1.5 Tage eingepackt. Was dann aber geschah, war doch ausserordentlich.

Bis Madrid ging alles gut.

Ich wundere mich, als wir in Madrid einfahren: Eigentlich ist hier Wüste, aber links und rechts des Bahntrasses gibt es grosse Flächen mit stehendem Wasser, der Himmel ist dunkel. Ich kümmere mich nicht weiter, denn das Umsteigen in Madrid ist heikel. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren und frage einen Schaffner, wie ich am schnellsten umsteigen könne. Er verweist mich auf einen Renfe Mitarbeiter, der uns helfen wird. Dieser allerdings führt uns nicht aufs Perron, sondern in die Abfahrtshalle und informiert uns, dass er nicht wisse, wann es für uns weiter gehe. Aufgrund sintflutartiger Gewitter gäbe es Verspätungen.
Die Leute schauen auf Ihre Mobiltelefone. Die Regionen Madrid & Toledo haben gerade eine Katastrophenwarnung auf alle Mobiltelefone ausgegeben. Die einzige Bahnlinie, die noch verkehrt, ist jene nach Barcelona, jene auf der ich hier angekommen bin. Renfe weiss selbst nicht, wann Züge wieder richtig fahren. Das Hochgeschwindigkeitsnetz ist zusammengebrochen. Es ist 20:00 Uhr. Die Reisenden warten, erst stehend, dann liegend. Es tut sich über Stunden nichts. Es sind an die 400-500 Menschen in der Abfahrtshalle und obwohl Renfe nichts zum Zustand des Netzes sagen kann, stehen die Leute in riesigen Schlangen an den wenigen Renfe Schaltern an.

Um 23:00 Uhr werden alle Züge gecancelt.

Man könne frühestens morgen die Situation beurteilen, dann würden allenfalls neue Abfahrtstickets ausgestellt. Einige Leute verlangen lautstark nach Alternativen und Optionen doch, es ist ja genau das Tolle am Hochgeschwindigkeitsnetz, für dieses Reisemittel gibt es keine vergleichbaren Alternativen. Ersatzbusse funktionieren auf diese Distanzen einfach nicht, besonders nicht bei zerstörten Strassen. Nun, mir ist klar, dass ich um 23 Uhr nachts, in einer halb überfluteten Stadt, kein Hotel finde und ich bin auch zu müde, um an Alternativen zu arbeiten. Ich habe ja Essen und Getränke im Gepäck und entschliesse mich, mit vielen anderen in der Station am Boden zu übernachten. Besonders für Mütter mit Kleinkindern ist die Situation allerdings ziemlich dramatisch. Es gibt keine Getränke und auch kein Essen mehr zu kaufen, denn die Läden haben inzwischen alle geschlossen. Die Stimmung ist trotzdem überraschend ruhig. Ein paar Polizisten, Sanitäter und Leute der Seguridad Social mischen sich unter die Reisenden und versuchen, die besonders verzweifelten zu betreuen. Wir hoffen alle, dass es morgen weiter geht und legen uns hin. Immerhin ist es sicher, trocken und warm.

Mein Wecker klingelt, denn es hat geheissen, ab 5:30 könne man Tickets eintauschen. Als ich mich aufrichte, verläuft die Schlange vor den Renfe Schaltern schon zweimal rings um die Abfahrtshalle. Keine Züge kommen oder gehen.

Die Situation verschärft sich am Morgen weiter.

Es wird immer lauter in der Station, denn nun kommen neue Leute herein, die auf ihre Morgenzüge möchten, die ebenfalls nicht fahren. Es wird ungemütlich. Ich merke ich brauche unbedingt einen Plan, eine Perspektive. Aus Verzweiflung fahre ich an den Flughafen, um dort die Optionen zu checken. Immerhin kann ich so dem unerträglichen Lärm entfliehen. Natürlich sind die Flüge nach Màlaga unbezahlbar geworden und ich ertrage es einfach nicht, mit einem Interrail in der Tasche in ein Flugzeug zu steigen. Ich sehe auf dem Onlinefahrplan, dass einem Zug ein Perron zugewiesen wird. Hoffnung kommt auf. Ich gehe zurück zur Bahnstation. Das Chaos und der Lärm sind unglaublich. Die Renfe - und Adif-Mitarbeiter haben grosse Schwierigkeiten, die Menschenmassen zu kontrollieren. Es gibt widersprüchliche Informationen, wer in einen kommenden Zug einsteigen kann. Die Leute sind gestresst und völlig übermüdet. Als der erste Zug einfährt und Leute zu den Terminals rennen, kippt die Stimmung komplett. Es kommt zu kleineren Handgemengen. Offensichtlich hat man das befürchtet, denn nach kurzer Zeit marschiert ein massives Polizeiaufgebot in die Station ein und übernimmt das Kommando. Die Polizei beginnt die Massen energisch zu separieren, beginnt zu klären, wer wie lange auf eine Abfahrt wartet und drängt die Leute in verschiedenen Bereichen. Das grosse Polizeiaufgebot wirkt zum Glück und die Situation beginnt sich wieder zu beruhigen. Besonders die Tatsache, dass es nun offensichtlich irgendwann geordnet weitergeht, macht Mut. Wegen des inzwischen abgeschalteten Ticketshops kann Renfe aber für die ankommenden Züge keine Boardingpasses ausstellen und so machen sich die Mitarbeiter und die Polizei daran, auf Papierzettelchen Sitzplätze zuzuweisen. Ich werde in einen der ersten Züge gesteckt.

Erleichterung macht sich breit, als ich mich auf meinen Platz setze. 
In langsamem Tempo rollt der Zug durch die überschwemmten Gebiete. An den Strommasten der Fahrleitung hat es zeitweise einen Meter hoch Schwemmholz gestapelt. Die Leittechnik ist kilometerweise aus den Schächten des Bahntrasses gespült. Auweia, das sieht wirklich übel aus.

Überschwemmungen einen Tag später bei der Ausfahrt in der Region Toledo.
Zerstörtes Bahntrasse in der Region Toledo einen Tag später bei der Ausfahrt

Nach ein paar Stunden nimmt der Zug wieder Fahrt auf und ich komme gegen Abend doch noch in Màlaga an. Als ich aussteige erwarten mich Sonnenschein, Sand, Strand, Lebensfreude. Es wirkt surreal, aber ich hoffe, dass mich diese Umgebung die Strapazen schnell vergessen lässt.

Plaza de la Constituciòn Màlaga

Es fällt mir die kommenden Tage trotzdem schwer besonders die verzweifelte Asiatin zu vergessen die in schlechtem Englisch im Chaos ihre vermisste Tochter suchte. Zwei Tage später steht Griechenland unter Wasser, kurz danach Hong-Kong. Ich habe ein verdammt mulmiges Gefühl im Bauch. Mir scheint, die Leute können sehr schlecht damit umgehen, was in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommen könnte. Trotzdem fährt die Menschheit immer weiter, wie ich, unbeschwert, mit Hochgeschwindigkeit Richtung Katastrophe.

Hafenpromenade in Màlaga
Polizei am Bahnhof Atocha, nachdem sie die Situation wieder beruhigt hat.