Wie ein jahrzehntelanges Milliardenprojekt auf allen Ebenen versagt und wohl nie in vollständiger Form das Tagelicht erbli-cken wird

Wo soll ich beginnen?

Es gibt Momente im Leben, in denen man einer Geschichte begegnet oder einem etwas widerfährt, das so surreal erscheint, dass man danach kaum weiss, wie mit der Erzählung angefangen werden soll. Heute ergeht es mir so, nach dem Besuch des neuen Belgrader Hauptbahnhofs.

Ich studiere im Masterstudiengang Raumentwicklung & Infrastruktursysteme an der ETH Zürich, salopp gesagt bin ich also Student der Raum- und Verkehrsplanung. Im Rahmen einer Abschlussreise besuche ich zurzeit mit meinen Kommiliton:innen im Balkan diverse bereits vollendete oder in der Planung befindliche Grossbauprojekte. Oder, im vorliegenden Falle, etwas dazwischen. In Serbiens Hauptstadt Belgrad besuchten wir heute das Verkehrsministerium und wurden anschliessend zu einer Besichtigung des im Jahre 2016 neu eröffneten Hauptbahnhofs «Belgrade Center» eingeladen. Der Standort, der oft auch «Prokop» (serbisch für Durchbruch) genannt wird, befindet sich südlich des Stadtzentrums und löst seit 2018 als neuer Durchgangsbahnhof den bisherigen Kopfbahnhof ab.

Eine Baustelle für die Ewigkeit – der Berliner Flughafen ist ein Klacks dagegen

Wird nach dem Zeitpunkt des Baubeginns des neuen Hauptbahnhofs gesucht, muss man satte 45 Jahre zurückblicken. Als wichtigster Verkehrsknoten Jugoslawiens wuchs in Belgrad der Bedarf für einen Ausbau des damaligen Kopfbahnhofs. Da 1975 eine Erweiterung am bisherigen Standort von der Stadtplanung abgelehnt wurde, entschloss man sich, einen neuen Bahnhofsterminal am südlichen Stadtrand zu bauen mit dem Ziel diesen 1979 einzuweihen. 1977 wurden mit den Bauarbeiten begonnen, nachdem rund 50 Häuser geräumt und 70 Familien zwangsumgesiedelt worden waren, nur um bereits zwei Jahre später wieder mit dem Bau zu stoppen. Nach einer Pause wurden die ersten acht von zehn geplanten Gleisen bis 1984 fertiggestellt, die letzten zwei fehlen bis heute. Was danach folgte, war ein durch ökonomische Krisen geprägter, jahrzehntelanger Wechsel zwischen Bau- und Stagnationsphasen. Eine grossräumige Wiederaufnahme der Baustelle erfolgte dann erstmals in den späten 90er Jahren und dann erneut anfangs des letzten Jahrzehnts. Fertig ist die Baustelle aber noch lange nicht.

Die beiden Gleise 1 & 2 die weiterhin auf ihre Fertigstellung warten.

Als wir zu Beginn des Besuchs im Verkehrsministerium in einem altehrwürdigen Sitzungssaal empfangen werden, beginnt der vertretende Abgeordnete sogleich mit den Worten «Heute werde ich euch die Ausreden dafür auftischen, warum der Bahnhof bis heute nicht fertig ist». So wirklich verständlich sind seine Erklärungen dann aber auch wieder nicht. Es wird jedoch stolz verkündet, der Bahnhof sei zwar noch nicht ganz fertig aber doch schon seit sieben Jahren erfolgreich in Betrieb und habe den Alten seit fünf Jahren vollständig abgelöst. Im Anschluss wird uns wird ein nationalistisch geprägter, elf-minütiger Film über die vielen realisierten Grossprojekte des nationalen technischen Instituts gezeigt. Interessanterweise fehlt darin der neue Bahnhof «Prokop».

Ein Bahnhof im Niemandsland

Im Anschluss an den Empfang werden wir eingeladen, gemeinsam mit einem am Bau beteiligten Architekten den neuen Bahnhof zu besichtigen. Ein lokaler Stadtbus bringt uns zu einer rund 500m Meter vom Bahnhof entfernten Haltestelle, die letzten Meter gehen wir zu Fuss. Am Ziel angekommen erwartet uns eine Leere, die ich so selten erlebt habe. Wäre uns nicht im Vorfeld mitgeteilt worden, dass der Bahnhof bereits in Betrieb sei, wäre wohl niemand darauf gekommen. Zu sehen ist eine spärlich besetzte Grossbaustelle, geprägt von frisch betonierten Hausfassaden, nackten Stahlträgern und an einigen Stellen pro forma platzierten Glasscheiben. Vor dem einzigen knapp drei Meter breiten Bahnhofseingang warten zwei Taxis, darum herum nichts, von weiteren Personen keine Spur.

Durch den Eingang hindurch erblicken wir eine Etage weiter unten endlich das Herz des neuen Hauptbahnhofs, der auf den ersten Blick tatsächlich ziemlich modern und fertiggestellt wirkt. Nach einigen Sekunden jedoch wird schnell klar, dass der initiale Blick täuscht. Am Perron entlang blickend sieht man einen Handwerker an einem Geländer schweissend, ein paar Meter weiter dringen grosse Mengen an Wasser durch die Decke, eine überlaufende Tonne versucht vergeblich die Flüssigkeit aufzufangen. Schweift der Blick etwas weiter über die ersten paar Gleispaare erkennt man schnell, hier ist man noch lange nicht fertig. Auch im unterirdischen Bahnhofsinnern ändert sich der Eindruck der Leere kaum. Ein knappes Dutzend Passagiere bewegt sich auf den vier Perrons, es gibt einen einzigen bedienten Bahnschalter und ein winziges, ziemlich räudig wirkendes Café… und das soll ein Hauptbahnhof einer europäischen Metropole sein?

Die leere Bahnhofshalle, Passagiere fehlen weitgehend.

Kapazität und Auslastung im Ungleichgewicht

Wir treffen den Bahnhofsleiter, der uns auf eine umfangreiche Tour ins Innere des Bahnhofs mitnimmt. Er erzählt von den in den jüngsten Jahren erreichten Meilensteinen und vom kommerziellen Potenzial des Standorts. Während dem Rundgang treffen wir, abgesehen von einigen Bauarbeitern und Putzpersonal, kaum auf weitere Menschen. So kommt schnell die Frage auf, was der eigentliche Zweck dieser Riesenanlage ist. Etwas zögerlich werden dann auch die täglichen Passagierzahlen herausgerückt, unter der Woche sind es rund 3'000 Nutzende, also eine etwa gleich Hohe Anzahl wie Samedan (GR), Ostermundigen (BE) oder Bonstetten-Wettswil (ZH). Natürlich wird zugleich versichert, dass nach dem Fertigstellen der letzten zwei Gleise und der Inbetriebnahme neuer Bahnlinien 2025 ein vielfach höheres Potential erreicht würde. Welche Zahlen dann prognostiziert seien, wollten wir folglich wissen. Man rechne mit täglich 280 bis 290 Zügen und rund 10'000 Passagieren pro Tag… was ausgerechnet also fast 35 Personen pro Zug entspricht?! Und das in einer 1.2 Millionen Stadt?

Ein neuer Lift wird installiert
Reinigung der kaum genutzten Unterführung.

Ein finanzieller Albtraum

Bis 2007 sollen bereits rund 980 Millionen Euro in das Grossprojekt investiert worden sein. Bereits im Verkehrsministerium wird uns weisgemacht, dass das Projekt nach erneuten temporären Stilllegungen um die Jahrtausendwende 2012 nur aufgrund privater Investoren überhaupt wieder aufgenommen werden konnten. Sie übernehmen seither die Kosten des Bahnhofbaus und erhalten im Gegenzug Bau- und Kommerzrechte für die Flächen über und teilweise neben dem Bahnhof. Während der Besichtigung führt der Bahnhofsleiter weiter aus, dass es sich bei den Investitionen zuletzt um zweistellige Millionenbeiträge aus Kuwait handle, sowie grössere Beträge aus China. Die Chinesen hätten weiter nicht nur den Bau der neuen, 2021 eröffneten Schnellfahrsstrecke zwischen Belgrad und Novi Sad im Norden mitfinanziert, sondern auch teilweise ausgeführt. Ab 2025 soll die Strecke bis nach Budapest verlängert werden. Gemäss einer lokalen Historikerin, die wir tags zuvor an einer Stadtführung kennenlernten, seien die Chinesen im Allgemeinen sehr am Ausbau des ganzen Bahnkorridors interessiert, um ihre Güter vom Bahnhof Piräus schneller in den EU-Raum bringen zu können.

Doch paradoxerweise scheint trotz der erwähnten hohen Investitionen an allen Ecken gespart zu werden: Die einzige errichtete Toilettenanlage ist inkomplett und teils undicht, (inoffizielle) Zugänge zum Bahnhof führen teilweise über Holzplanken, das Betriebsgebäude wirkt eher wie ein Temporär Bau und im Allgemeinen sieht die teils neue Infrastruktur vielerorts schon alt aus. Zudem ragen an einigen Stellen bereits wieder marode Teile aus der Anfangsbauzeit hervor. Herumliegende tote Vögel, zurückgelassene Kinderwagen und Abfall etwas abseits der Gleisanlagen verhelfen dem Gesamtbild auch nicht gerade.

Abseits der Gleise, der Rohbau wo einst Läden und Büros stehen sollen.

Multimodalität wo?

Werden seit Jahrzenten hunderte Millionen Euro in einen neuen Mobilitätsknoten gesteckt, so würde man zumindest annehmen, dass die Multimodalität und Einbettung in den lokalen und regionalen Verkehr für die Zukunft gewährleistet wird – Nope. Auch hier zeichnet sich leider das nächste Trauerspiel ab. Kaum einer der dutzenden Busverbindungen aus dem Stadtinnern führt zum neuen Bahnhof, direkt vor dem Haupteingang halten im Moment gerade einmal zwei Buslinien. Etwas weiter entfernt (in 500m Gehdistanz) halten immerhin ein halbes Dutzend Weitere – für Reisende mit Mobilitätseinschränkungen nicht eben ideal. Als gut angeschlossen kann man den Bahnhof demnach nicht bezeichnen, ganz zu schweigen von informativ; auch Busfahrpläne sind an den Haltestellen nirgends zu finden. Statt in die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln wird in die Anbindung an die nördlich durchgehende Autobahn investiert. Es entstehen hunderte neue Parkplätze, die eher der Erreichbarkeit des über dem Bahnhof geplanten Einkaufszentrums zu dienen scheinen, als effektiv dem Hauptbahnhof an sich. Die Verbildlichung der Pläne unterstreichen den MIV-Fokus, so soll direkt vor dem Haupteingang ein grosser Taxibahnhof entstehen und erst etwas weiter nebenan, im Verhältnis sehr klein, eine Bushaltestelle. Dass mehrere Metrolinien für die Stadt in Planung sind, der neue Hauptbahnhof stand heute aber nicht in den Plänen berücksichtigt wird, ist ein wahres verkehrstechnisches Armutszeugnis. Zwar wird während der Besichtigung mehrfach erwähnt; «die Pläne seien noch nicht definitiv und es werde derzeit noch geprüft, ob man die eine Linie doch noch bis zum Hauptbahnhof verlängern könnte». Glaubhaft wirkt dies allerdings kaum mehr. Auch wenn gemäss des Bahnhofsleiters noch weitere neue Buslinien geschaffen werden sollen, eine Revolution in Sachen Verkehrsintegration wird das nicht auslösen.  

Visualisierung des Bahnhofs: die Bushaltestelle muss der Taxischlaufe und Parkplätzen weichen.

Das Versagen einer Politik

Während des gesamten Besuchs entsteht der Eindruck, dass von allen beteiligten Akteuren lediglich die politisch korrekte Version präsentiert wird, die Version die das Projekt rühmt und als revolutionären Verkehrsknoten darstellt. Hört man genau hin, entsteht hingegen der Eindruck, dass die Experten eigentlich genau wissen, dass aus dem Projekt auch längerfristig nichts werden wird. Es braucht mehrere Versuche, bis der Bahnhofsleiter dann doch noch einräumt, dass sich abzeichne, dass der etwas westlich liegende Bahnhof «novi Belgrad» als Standort für den Bau des neuen Hauptbahnhofs eigentlich besser geeignet gewesen wäre. Dezent spürt man in seinen Worten die Enttäuschung. Drastischere Worte wählt die bereits erwähnte (und nicht staatlich angestellte) Historikerin: «Sie haben den dümmsten Ort für den Bau ausgewählt». Die Politik Serbiens scheint so stark in die Sache verstrickt zu sein, dass ein Scheitern des Projekts für den Staat schlicht nicht tragbar wäre. Um einem offensichtlich desaströsen Gesichtsverlust zu entgehen, wird daher kontinuierlich weiter in das Projekt investiert, anstatt einen vollständigen Baustopp zu verhängen und sich einzugestehen, dass aus dem neuen Bahnhof nichts wird. Man hat sich dazu entschieden, auf Biegen und Brechen an diesem surrealen Konstrukt festzuhalten um es hoffentlich doch irgendwann fertigzustellen, wohl dann mit Millionenverlusten und Passagierzahlen, die eher einer 20'000 Einwohner:innen Stadt, statt einer 1.2 Millionen Metropole gerecht werden.